Im Rahmen einer depressiven Erkrankung ziehen sich viele Patienten zurück, sind inaktiv und vernachlässigen auch die Dinge, die ihnen bislang wichtig gewesen sind bzw. Spaß gemacht haben. Wer einmal in den typischen Teufelskreis der Depression hineingeraten ist, erkennt oft nicht, dass es in hohem Maße gerade diese Inaktivität und der Rückzug sind, die die depressive Stimmung bedingen, verstärken und aufrechterhalten. Es ist deshalb zunächst wichtig, ein Verständnis der Zusammenhänge zu erarbeiten: Positive Stimmungen und Gefühle entstehen bei angenehmen Aktivitäten. Zu wenige oder gar fehlende angenehme Aktivitäten führen hingegen in einen depressionsfördernden Teufelskreis: Wenn ich inaktiv bin, passiert nichts, was mir Freude machen könnte. Bin ich bereits deprimiert, können sich meine negativen Gedanken und Stimmungen gerade aufgrund meiner Inaktivität noch ungehemmter ausbreiten. Insbesondere die Möglichkeit, durch den Kontakt zu anderen auf andere Gedanken zu kommen, wird durch den sozialen Rückzug verhindert.
Man kann den Zusammenhang zwischen Stimmung und Aktivität bzw. Belastung anhand eines einfachen Modells erklären, der Stimmungswaage (siehe Grafik).
Um sich langfristig ausgeglichen zu fühlen, sollten sich angenehme und unangenehme, belastende und erfreuliche Erlebnisse in etwa die Waage halten ‒ auch wenn natürlich kürzere Phasen einer Unausgeglichenheit, wie z. B. bei einer stressigen Phase im Beruf oder nach der Geburt eines Kindes toleriert werden können. Da in der Depression die depressive Symptomatik selbst schon sehr belastend ist und die auslösenden Probleme meist noch fortbestehen, sollte ein Gegengewicht aus angenehmen, positive Stimmungen erzeugenden Aktivitäten gebildet werden. Zudem ist es hilfreich, die Anzahl unangenehmer, depressionsfördernder Aktivitäten und Belastungen zu reduzieren.
Wie lässt sich diese Doppelstrategie in die Tat umsetzen? Auf der "Soll"-Seite geht es zunächst darum, gemeinsam mit dem Patienten zu prüfen, bei welchen Verpflichtungen (z. B. Pflege eines Angehörigen) er sich für einige Zeit entlasten lassen kann bzw. welche Belastungen (z. B. Ehestreitigkeiten) sich fürs erste vermeiden lassen. Auf der "Haben"-Seite geht es darum, die Inaktivität zu überwinden, wieder etwas Sinnvolles zu tun und sich dabei verstärkt um besonders angenehme Aktivitäten (z. B. Hobbys oder alte Lieblingsbeschäftigungen) zu bemühen.
Am wichtigsten und am wirksamsten ist es, die Rate positiver Aktivitäten zu erhöhen. Dies bildet den Anfang des Bemühens, den Teufelskreis der Depression aufzuhalten und zurückzudrehen, auch wenn die Aufnahme positiver Aktivitäten in der Regel nicht sofort zu einer Stimmungsverbesserung führt. Dies praktisch umzusetzen ist viel schwieriger, als man zunächst denken mag. Gerade nach langen Phasen der Depression fällt es den Betroffenen schwer, sich angenehme Tätigkeiten auch nur vorzustellen, geschweige denn diese auszuführen. Diese Schwierigkeit des therapeutischen Aktivierungsprozesses lässt sich mit einem großen, schwer beladenden Wagen vergleichen: Wenn man diesen aus dem Stand anzuschieben beginnt, fällt dies sehr schwer und bedarf aller vorhandenen Kraft. Wenn der Wagen jedoch erst mal zu rollen begonnen hat, fällt das Schieben immer leichter. Bei richtiger Reisegeschwindigkeit stehen Anstrengung und Vorwärtskommen schließlich in einem günstigen Verhältnis.
Einige wichtige Nebenaspekte des Aktivitätsaufbaus seien kurz erwähnt. Für solche Patienten, die sehr leistungs- und erfolgsorientiert sind, stellt die depressionsbedingte Inaktivität häufig eine zusätzliche Belastung dar: Sie erleben sich als leistungsunfähig und erfolglos und bewerten sich deshalb zusätzlich negativ. Mit der Aktivierung wird es möglich, diese Selbstabwertung zumindest schrittweise zu überwinden. Denn ‒ diese Einsicht wird mit dem Aktivitätsaufbau immer größer ‒man tut wieder etwas, der Tag ist ausgefüllt und das, was man tut, gelingt meistens auch. Vielen Betroffenen ermöglicht das, wieder mehr an sich und ihre Fähigkeit, die Depression zu überwinden, zu glauben.
Jeder Mensch erschließt im Laufe seines Lebens Quellen der Freude, der Entspannung und der Selbstzufriedenheit. Dies können bestimmte Aktivitäten, Orte oder Talente, Hobbys oder Veranstaltungen sein. In der Depression ist der Zugang zu diesen „Kraftquellen“ ‒ die Fachleute sprechen von „Ressourcen“ ‒ oft verschüttet. Man hat viele Dinge lange nicht mehr gemacht, man traut es sich nicht mehr zu oder man hält sich aufgrund des gesunkenen Selbstwertgefühls sogar für unwürdig, um zu einer dieser alten Quellen zurückzukehren. Es kann außerordentlich hilfreich sein, diesen Widerstand zu überwinden und den Patienten in der Therapie dabei zu unterstützen, sich wieder an alte Kraftquellen anzunähern. Erfolgreiche „Ressourcenaktivierung“ tut nicht nur gut; sie gibt einem auch die Kraft, die man braucht, um weitere therapeutische Schritte zu unternehmen.
In der Christoph-Dornier-Klinik findet der Aktivitätsaufbau bzw. die Ressourcenaktvierung überwiegend in der Einzeltherapie statt. Neben der genauen Analyse der depressiven Verhaltensweisen und ursprünglichen Ressourcen wird zunächst gemeinsam mit dem Patienten ein aktiver Tagesplan mit fest eingeplanten Aktivitäten aufgestellt. Je schwerer dem Patienten anfangs die Umsetzung des Aktivitätenplans fällt, desto mehr wird er dabei einzeltherapeutisch unterstützt. In dieser Phase ist die Teilnahme an der morgendlichen Aktivierungsgruppe hilfreich, denn körperliche Aktivität hilft, die Antriebs- und Lustlosigkeit zu überwinden. Zudem hat Bewegung einen antidepressiven Effekt. Je mehr es den Patienten gelingt, aktiver zu sein und selbstständig etwas zu unternehmen, desto anspruchsvollere und damit in der Regel auch angenehmere Unternehmungen und Aktivitäten werden in den Aktivitätsplan aufgenommen. Mit Hilfe einer systematischen Auswertung der Stimmungsveränderungen im Verlauf des Aktivitätenaufbaus machen Betroffene die Erfahrung, dass sie selber mit ihrer Tagesgestaltung auf ihre Stimmung Einfluss nehmen können.