Aufklärung und Information
Trotz vieler Versuche der Patienten gegen die Symptome anzukämpfen, gelingt es nur selten allein mit Einsicht und Willenskraft der Beschwerden Herr zu werden. Viele der Versuche der Betroffenen, die Belastung durch die Beschwerden zu reduzieren, z. B. der bewusste Versuch bestimmte Gedanken zu unterdrücken, können sogar zu einer Verstärkung der Symptome führen.
Aus diesem Grund ist es von zentraler Wichtigkeit, genau zu durchschauen, wie die eigene Erkrankung entstanden ist und was sie aufrechterhält. Nur wer sich auskennt, kann die therapeutischen Angebote optimal für sich nutzen und lernen, später sein eigener Therapeut zu sein. Dies ist besonders im Fall der Zwangserkrankung wichtig, da ein gewisser Wechsel der Symptomatik zur Erkrankung dazugehört und Betroffene so das Gelernte auch auf andere Symptome anwenden können.
Exposition in vivo
Gemeinsam mit dem Therapeuten werden die Betroffenen dabei unterstützt, sich genau mit solchen Situationen zu konfrontieren, in denen die Zwangsrituale auftreten. Diese Situationen sind individuell sehr unterschiedlich. Die richtige Auswahl der Situationen und Orte auf Basis der ausführlichen Diagnostik hat hier eine hohe Bedeutung.
Bei Expositionsübungen kann es sich unter Umständen um sehr spezifische Situationen handeln, wie z. B. das Benutzen von Elektrogeräten, das Berühren von Türklinken oder aber das Denken bestimmter Gedanken. Bei diesen Konfrontationsübungen werden die Patienten durch ihren Therapeuten dabei unterstützt, die aufkommende Angst und Unruhe zuzulassen, gegebenenfalls sogar etwas zu verstärken und gleichzeitig kein Vermeidungsverhalten zu zeigen und auf die Ausübung der üblichen Zwangsrituale auf gedanklicher oder Handlungsebene zu verzichten.
Durch dieses Aushalten der Anspannung, ohne Gegenmaßnahmen anzuwenden, können die Betroffenen zwei wertvolle Lernerfahrungen machen. Zum einen erleben Patienten, dass die Angst und Anspannung auch ohne Vermeidung und Neutralisierung nachlassen. Diese Gewöhnung, ein automatischer körperlicher Prozess, wird in der Fachsprache "Habituation" genannt.
Einfach gesprochen könnte man diesen körperlichen Prozess mit einem "Verlernen" vergleichen. Wer z. B. jahrelang an einer S-Bahn-Strecke wohnt, nimmt den Lärm nicht mehr wahr und ist verwundert, wenn Besucher nachts nicht schlafen können; er hat sich an den Lärm gewöhnt. Genauso wird der Patient sich an die gefürchteten Gedanken und Situationen gewöhnen, sodass diese für ihn an Wichtigkeit verlieren.
Zum anderen können Betroffene durch diese Expositionsübungen erleben, dass die gefürchtete Konsequenz, wie z. B. eine schwere Infektion von einer Türklinke oder ein als extrem wahrscheinlich eingeschätztes Unglück, auch ohne Zwangsrituale ausbleibt ‒ diese also oft weder notwendig noch sinnvoll zur Abwehr von Gefahren sind. Falls die gefürchtete Konsequenz sehr weit in der Zukunft liegt, also nicht direkt überprüft werden kann (wie z. B. bei der Annahme, durch Zwangsrituale das Auftreten einer Krankheit zu verhindern), werden bereits im Rahmen der Exposition in vivo Elemente der kognitiven Therapie angewandt.
Kognitive Therapie
Die kognitive Therapie ist ein weiteres wichtiges Element der Zwangsbehandlung. Bei diesem Therapieelement werden die ungünstigen Bewertungen der aufdringlichen Gedanken gemeinsam mit dem Therapeuten identifiziert und manchmal auch in Zusammenarbeit mit "objektiven Instanzen" (z. B. der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für die Frage nach Gesundheitsrisiken durch Keime etc.) durch realistischere oder nützlichere Gedanken ersetzt.
Zusätzlich werden im Rahmen der kognitiven Therapie grundsätzliche Annahmen hinterfragt, die oft inhaltlich den Nährboden für den Zwang darstellen. Diese beinhalten häufig Themen der eigenen Wertlosigkeit (z. B. "Solche Gedanken zeigen, dass ich ein schlechter Mensch bin."), eine übermäßige Verantwortungsübernahme (z. B. "Ein unwahrscheinliches Unheil nicht zu verhindern, ist genauso schlimm wie aktiv jemandem zu schaden.") und Ablehnung (z. B. "Andere könnten mir ansehen, dass ich verschmutzt bin."). Diese Überzeugungen lösen neben dem Zwang nicht selten depressive Gefühle aus und müssen deshalb in therapeutischen Gesprächen hinterfragt und bearbeitet werden.
Während der kognitiven Therapie wird auch eine gemeinsame Problemdefinition erstellt und immer wieder aktualisiert. Sie fußt darauf, dass nicht z. B. die gefürchtete Krankheit das eigentliche Problem darstellt, sondern die Überbewertung der zwanghaften Gedanken, die erst zur "Verseuchungsangst" führen.
Auch wenn der Zwang in den Hintergrund getreten oder gar ganz verschwunden ist, werden ehemalige Patienten – wie alle anderen auch – immer wieder einmal unsinnige aufdringliche Gedanken haben. Vor diesem Hintergrund ist es von entscheidender Bedeutung, dass Betroffene im Rahmen der kognitiven Therapie lernen, ihre Bewertungen dieser Gedanken zu hinterfragen und diesen weniger Bedeutung beizumessen.
Der gesunde Maßstab
Die meisten Zwangspatienten haben über viele Jahre Teile ihres Alltags oder sogar ihr gesamtes Leben auf das Zwangssystem abgestimmt. Dieses Zwangssystem aufzugeben ist Ziel der Therapie und eine fordernde und anstrengende Aufgabe. Zugleich zu erwarten, dass sich anstelle des Zwangssystems quasi "nebenbei", wie von selbst ein normaler Maßstab für ehemaliges Zwangsverhalten entwickelt, wie z. B. die Häufigkeit des Händewaschens, wäre unrealistisch und eine große Überforderung.
Aus diesem Grund erarbeiten gegen Ende der Therapie Patient und Therapeut gemeinsam ein neues, gesundes "System". Dieses System soll dem Patienten als Schutz und Übergangslösung so lange dienen, bis er wieder eigene Bedürfnisse z. B. nach Ordnung, Hygiene, Verantwortung, Kontrolle usw. spürt, die nicht mehr vom Zwang beeinflusst werden.
Zukunftsorientierung und Vorbereitung auf die „neue Freiheit“
Viele Zwangspatienten benötigen einen großen Teil ihrer Zeit dafür, bestimmte Zwangsrituale durchzuführen oder Situationen zu vermeiden, in denen der Zwang akut wird. Ist die Therapie erfolgreich, so gewinnt der Patient einen großen Teil seiner Zeit zurück. Diese "neue Freiheit" ist zunächst verlockend, aber auf den zweiten Blick auch herausfordernd.
Denn wenn Betroffene wenige Ideen dafür haben, wie sie die neu gewonnene Zeit strukturieren möchten, besteht die Gefahr, dass sie in das alte eingeschliffene und bekannte Zwangsverhalten zurückfallen. Deshalb werden die Patienten vom Therapeuten dabei unterstützt, die Zeit nach der Entlassung schon jetzt zu strukturieren, alte Hobbys zu aktivieren und sich neue konkrete Aufgaben oder Projekte zu suchen.
Außerdem sind durch die starke Beschäftigung mit dem Zwang oftmals früher gesteckte Lebensziele, Pläne und Interessen aufgegeben oder vergessen worden. In der Therapie lernen Patienten wieder, ihr Leben in die Hand zu nehmen und den Blick auf Gegenwart und Zukunft zu richten.
Partnergespräche, Familiengespräche
Ein typisches Merkmal des Zwanges darin besteht, dass Patienten aus ihrer Not heraus versuchen, Angehörige in das Zwangssystem zu integrieren oder sich Rückversicherung zu holen. Deshalb ist es häufig sinnvoll, Partner, Eltern oder andere Angehörige in die Behandlung einzubeziehen, falls die Patienten dies wünschen. Oft sind Angehörige, genauso wie der Patient, stark verunsichert, wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, und sind durch die Zwangserkrankung des Familienmitglieds belastet.
In gemeinsamen Gesprächen werden Partner oder Angehörige zunächst über die Hintergründe der Erkrankung und dann über das konkrete Vorgehen in der Therapie informiert. In einem zweiten Schritt kann auch gemeinsam nach Situationen gesucht werden, in denen Angehörige den Zwang möglicherweise ungewollt unterstützt haben. In einem solchen Fall können Patienten mit ihren Angehörigen vereinbaren, wie diese sich in Zukunft in „Risikosituationen“ verhalten sollen, um gemeinsam Zwangsverhalten vorzubeugen.
Medikamentöse Behandlung
In der Behandlung von Zwangserkrankungen ist die kognitive Verhaltenstherapie die Methode der ersten Wahl. Ist jedoch ein Patient besonders stark oder schon lange von seinen Zwängen beeinträchtigt, ist eine zusätzliche psychopharmakologische Behandlung eine Möglichkeit, den Behandlungserfolg zu verbessern bzw. einen Einstieg in die herausfordernden therapeutischen Übungen zu erleichtern. Gleiches gilt, wenn neben der Zwangserkrankung eine depressive Verstimmung vorliegt.
Auch im Bereich der medikamentösen Therapie soll der Patient zum Experten seiner Behandlung werden, um eine fundierte Entscheidung diesbezüglich treffen zu können. Im Rahmen wöchentlicher Visiten werden Patienten bei Bedarf deshalb umfassend über die Möglichkeiten der modernen Pharmakotherapie informiert und aufgeklärt.
Während der Visiten werden auch alle weiteren körperlichen Probleme des Patienten aufgegriffen, und es wird gemeinsam über Behandlungsmöglichkeiten entschieden.
Selbsterprobung und Rückfallprophylaxe
Ein wichtiges Ziel der Therapie ist es, die Betroffenen zu ihrem eigenen Therapeuten zu machen und so Rückfällen vorzubeugen. Dazu werden einzelne therapeutische Übungen von dem Patienten bereits im Laufe der Behandlung zunehmend selbstständig durchgeführt. Gegen Ende der Übungs- und Bearbeitungsphase der Therapie wird der Schritt in einen neuen Alltag gemeinsam von Therapeut und Patient vorbereitet. Dabei werden mögliche Fallstricke und Strategien des Patienten, darauf zu reagieren, erarbeitet. Im Anschluss daran erproben die Betroffenen das in der Therapie Gelernte zu Hause, stehen dabei jedoch noch immer in regelmäßigem telefonischen Kontakt mit dem Therapeuten, der langsam ausgeschlichen wird.